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SHOGI shogi kanji

Japanisches Schach



Die Klötzchenschieber schlagen zurück

Von René Gralla

Schachspieler sind Klötzchenschieber. Dieser Spruch von Kaiser Franz Beckenbauer ist, obwohl das Hardcore-Fans natürlich nicht wahrhaben wollen, längst Allgemeingut. Damit nicht genug: Nun erfährt das fußballkaiserliche Verdikt auch noch Unterstützung von gänzlich unerwarteter Seite. In einer Schrift, die der japanische Kulturwissen-schaftler Cho-Yo bereits 1904 verfasst und die der Londoner Verlag Kegan Paul ein Jahrhundert später neu aufgelegt hat, mokiert sich der Gelehrte aus Fernost über das Design des hierzulande üblichen Schachs. Dessen Figuren mit Krönchen, Bischofshüten und Pferdeköpfen seien nachgerade "schädlich", um ein komplexes strategisches Spiel zu generieren, das hohen intellektuellen Ansprüchen genüge.

Entsprechend sei die okzidentale Version nicht mehr als ein Spiel für Kinder, urteilt Cho-Yo, jedenfalls im Vergleich zur japanischen Variante des Mattsports, dem Shogi. Besagtes Shogi sei nämlich dem Zeitvertreib der langnasigen Gaijin deswegen haushoch überlegen, weil es, indem Figuren durch beschriftete Pentagramme ersetzt würden, einen Abstraktionsgrad erreiche, der die Spieler befähige, auf der Grundlage mathematischer Kalkulationen komplexe Raumoperationen zu planen und effektiv zu exekutieren.

Eine gnadenlose Analyse, die jetzt allerdings die Frage aufwirft: Was tun? Sollen wir Europäer in kollektive Scham verfallen angesichts notorischen Klötzchensyndroms? Sollen wir jahrelang Japanisch studieren, um dann endlich zu verstehen, was uns die Japaner, wie Cho-Yo behauptet, voraus haben?

Alles Unsinn, meint der Franzose Emmanuel Baud. Drehen wir den Spieß doch einfach um: Wenn wir Gaijin schon unheilbare Klötzchenschieber sind, dann erheben wir das eben zum universalen Prinzip. Und folgerichtig hat der hauptberufliche Softwareexperte, anstatt demütig vor dem angeblich überlegenen asiatischen Masterplan niederzuknien und pflichtschuldigst kryptische Schriftzeichen zu memorieren, den spartanischen Look des Original-Shogi respektlos in eine diesseits des Urals vertraute Formensprache transformiert. Emmanuel Baud, der jobbedingt regelmäßig zwischen Frankreich und Vietnam pendelt, nennt sein Konzep "Eurasia-Chess": Goldgeneräle Marke Nippon verwandeln sich in Damen, die Shogi-Läufer und -Türme könnten ebenso gut über ein westliches Brett stürmen und rumpeln.

Eine kreative Lösung findet Emmanuel Baud für den speziellen Trick des Shogi, dass geschlagene Steine die Fronten wechseln und unter feindlicher Fahne wieder in die Schlacht eingreifen. Er koloriert seine Minaturen halb weiß, halb schwarz, und das führt zu einem umgekehrten visuellen Ying-Yang-Effekt. Führe ich die weiße Armee, zeigen meine Figurendem Gegner die entsprechend eingefärbte Seite, während ich als Kommandeur die schwarzen Rückseiten sehe. So dass ich auf der Basis eines Umkehrschlusses die Partie ausfechte: Ich nehme meine Truppen als "Schwarze" wahr, folglich habe ich "Weiß".

"Das klingt zunächst verwirrend", gibt Erfinder Emmanuel Baud zu, "aber sie gewöhnen sich schnell daran." Schließlich sei das die einzig praktikable Möglichkeit, die Aufnahme fremder Kämpfer im eigenen Lager auf die Weise zu simulieren, dass die konkreten Figuren einfach um 180 Grad gedreht werden. 

Ying-Yang im Shogi. Und das eröffnet atemberaubende Perspektiven: Die Hohen Priester des asketischen samurai-Schach kriegen Konkurrenz - von fröhlich rüpelhaften Klötzchenschiebern aus dem Westen.

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Nähere Infos zum "Eurasia-Chess": www.eurasia-chess.com

Der Artikel ist veröffentlicht worden in der Tageszeitung "Neues Deutschland":
Nachdruck mit freundlicher Genehmigung